Wir Menschen sind auf Bindung hin angelegte Wesen. Das gilt von Anfang der Mutter-Kind-Beziehung an. – Doch was heißt „von Anfang an“? Von Geburt? Sind die ersten drei Lebensjahre entscheidend für die Eltern-Kind-Bindung? Beginnt die Bindung im Laufe des ersten Lebensjahres, wenn man verschiedene Bindungstypen wissenschaftlich nachweisen kann? Beginnt sie beim sogenannten „Bonding“ von Mutter und Kind, direkt nachdem es geboren wurde? Wir ahnen es schon: Diese Frage führt uns noch weiter zurück, bis in die vorgeburtliche Lebenszeit hinein.
Begegnung im Mutterleib
Lassen wir Lilia zu Wort kommen. Sie ist schwanger und berichtet von einem Erlebnis mit ihrer Tochter:
Ich habe meine Tochter Selina gesehen, als ob sie aus einer Lotusblume wächst. Eine weiße Blume mit grünen Blättern im Hintergrund. Aber alles sah gequetscht aus. Selina war ruhig, in einer abwartenden Position. Ich habe ihr dann gesagt: „Das ist jetzt deine Zeit, ich bin bei dir.“
Dann habe ich viel mehr Blumen gesehen, Blätter von weißen Rosen um sie herum. Und dann war es, als ob Selina spürte: „Ok, dann nehme ich jetzt mehr Platz“. Sie hat angefangen, sich zu bewegen, als ob sie jetzt wachsen durfte. Sie sagte: „Dann nehme ich hier meinen Platz. Mit Blumen drumherum.“ Ich war dabei, habe aber physisch keinen Platz eingenommen.
Lilia
Diese Begegnung von Mutter und Tochter – selbstverständlich wurden die Namen geändert – fand in der 32. Schwangerschaftswoche statt. Ein Zeitpunkt, in der eine Schwangerschaft normalerweise sichtbar und der Bauch deutlich gerundet ist. Anders bei Lilia: ihr Bauch blieb flach. Ihr Alltag war turbulent. Als der berufliche und private Stress schließlich zu einer Erkrankung führte, suchte Lilia Hilfe und Begleitung. Sie sprach mit mir über die familiären Belastungen und nahm sich Zeit für die Bindungsanalyse, die Raum gibt für die Begegnung von Mutter und Kind während der Schwangerschaft. In einer entspannten Atmosphäre schließt die Mutter dabei die Augen und verbindet sich mit ihrem Baby. In einer der ersten Begleitungsstunden fand der oben geschilderte innere Dialog von Mutter und Tochter statt. Diese Erfahrung eröffnete Lilia einen neuen Blick auf sich und ihr Kind. Die inneren Bilder veranschaulichten, dass sowohl Mutter als auch Tochter bis zum Zeitpunkt der Begegnung buchstäblich der Raum für die Schwangerschaft fehlte.
Selbstfürsorge und Fürsorge gehen Hand in Hand
Als Lilia realisierte, wie schlecht es ihr ging, war sie bereit, Hilfe zu suchen. Nun begann sie, sich selbst und ihren wahren Bedürfnissen Beachtung zu schenken. Was ihr zuvor alleine nicht möglich war, geschah in der Begleitung: Sie konnte familiäre Belastungen erkennen und bekam Unterstützung, sich von diesen Themen abzugrenzen. Sie nahm sich Zeit für ihre Schwangerschaft und kam zur Ruhe.
Nun war Lilia auch bereit, ihrer Tochter Aufmerksamkeit schenken. Selina antwortete prompt und nahm sich, was sie brauchte: Raum und Bewegung. – Wen wundert es, dass Lilias Bauch ab diesem Zeitpunkt deutlich sichtbar wuchs?
Dieses Beispiel zeigt, wie die Selbstfürsorge der Mutter mit der Fürsorge für ihr Kind einhergeht. Erst als Lilia sich und ihre Gefühle wahrnimmt, sich ernst nimmt und für sich sorgt, kann sie auch ihr Kind wahrnehmen und erspüren, wie es ihm geht. Weil Lilia sich und ihren Themen zuvor in der Begleitung bereits Raum gegeben hat, kann sie nun auch ihrem Baby Raum geben.
Ver-bindung beginnt vor der Geburt
Erfahrungen wie diese sind kein Einzelfall. Sie verändern den Blick auf die Zeit der Schwangerschaft. Die Begleitung zahlreicher, berührender Begegnungen im Mutterleib hat mich verstehen lassen, dass eine Schwangerschaft die Möglichkeit einer ganz besonderen Verbindung mit sich bringt.
Im Miteinander von Mutter und Kind kann ein inniger, wechselseitiger Dialog entstehen. Selbstverständlich können auch Väter daran teilhaben und dann entsteht genaugenommen ein Trialog. Da die Mutter diejenige ist, die ihr Kind unmittelbar in ihrem Leib wahrnimmt, schreibe ich hier in erster Linie über die vorgeburtliche Verbindung von Mutter und Kind. Beide nehmen sich gegenseitig wahr, wobei die Art und Weise, wie das geschieht, immer unterschiedlich ist. Die Verbindung kommt über Gefühle, Körperempfindungen, innere Bilder oder über Worte, die aus dem Herzen fließen, zustande. Die Mutter vertraut dabei ihrer Intuition.
Herzensverbindungen machen glücklich – von Anfang an
In der Begleitung merke ich, wenn die Schwangere mit ihrem Kind in Kontakt kommt. Meist entspannt sich das Gesicht der Schwangeren in dem Moment deutlich und es wird rosiger, manchmal bewegen sich die Mundwinkel nach oben und ein Lächeln breitet sich aus. Spürbar ist, wie die Mutter ihr Herz öffnet und ein lebendiges Strömen zwischen ihr und dem Kind entsteht. In dieser Verbundenheit teilen Mutter und Kind sich gegenseitig mit – Gefühle und Empfindungen haben Raum. Manches bedarf der Klärung. In belastenden Situationen geht es oft darum, die Mutter darin zu unterstützen, Gefühle wie beispielsweise Ängste und Sorgen nicht unbewusst an das Kind weiterzugeben.
Kommen wir zurück zu Lilia und Selina.
Wie ging es Mutter und Kind nach ihrer ersten, intensiven Begegnung?
Lilia war sehr berührt davon, wie deutlich sie ihr Kind sehen konnte und wie klar sie die Bedürfnisse ihrer Tochter gespürt hat. Sie war auch überrascht von der Eindeutigkeit der Botschaft ihrer Tochter: Ich nehme mir jetzt Raum! Es machte Lilia stolz und glücklich, diesen tiefen Kontakt zu Selina gefunden zu haben. Kreativität und Lebendigkeit wurden in ihr geweckt. Sie begann, das innere Bild, das sie von ihrer Tochter gesehen hatte, zu malen. Der Bauch wuchs und ebenso die Neugier auf ihre kleine Tochter.
Lilia spürte während der Begegnung, dass Selina sich über ihre Aufmerksamkeit freute. Endlich konnte sie ihren Raum nehmen und sich nach Herzenslust bewegen. Das tat Selina fortan deutlich mehr und auch mittiger im Bauch. (Lilia erzählte, dass ihre Tochter zuvor immer „zusammengerollt“ an einer Seite der Gebärmutter gelegen hatte.) Das Bild, das Lilia nach dieser Begegnung malte, zeigte ihre Tochter in leuchtend-bunten Farben und in Blumen eingebettet. Wir dürfen annehmen, dass Selina ihren neu gewonnenen Raum und die Verbindung zu ihrer Mutter genoss.
Es macht einen Unterschied
Erfahrungen wie diese öffnen uns die Augen für eine Lebensphase, über die wir uns normalerweise kaum Gedanken machen: die Zeit und die Erfahrungswelt im Mutterleib. Das Bewusstsein für das Erleben der Kinder in dieser frühen Lebensphase wächst zunehmend. Das ist bedeutsam, denn es macht einen Unterschied, ob wir das Kind in dieser Lebensphase in erster Linie als ein Wesen betrachten, das auf gesundheitliche Parameter hin überwacht werden muss, oder ob wir es von Anfang an als lebendiges, empfindendes Wesen erachten, das die liebevolle Verbindung zur Mutter und zu den Eltern sucht und braucht.
Für Lilia und Selina war diese erste Begegnung ein entscheidender Wendepunkt in der Schwangerschaft. Lilia „besuchte“ ihre Tochter von nun an regelmäßig und zwischen beiden entfaltete sich eine tiefe Herzensverbindung. Die Herausforderungen des Alltags blieben bestehen, doch die Verbindung zur Tochter war für Lilia immer wieder eine Quelle der Freude und des Glücks.
Über Hiltrud Meyer-Fritsch
Hiltrud Meyer-Fritsch ist Diplom-Theologin und Bindungsanalytikerin nach Hidas und Raffai. In ihrer Praxis für Bindungsförderung und Bindungsanalyse begleitet und berät sie vor allem Menschen, die rund um Schwangerschaft und Geburt Hilfe suchen. Darüber hinaus ist sie als Coach, Referentin und als Dozentin für Hebammen tätig.