Bindungsanalyse: das emotionale Band zum Baby im Bauch – Hiltrud Meyer-Fritsch im Interview (Teil 1)

Literatur Radio Hörbahn. Mein Name ist Steven Lundström (SL) und bei mir zu Gast ist heute Hiltrud Meyer-Fritsch (HM). Sie ist Diplom-Theologin und Bindungsanalytikerin und führt eine Praxis für Bindungsförderung und Bindungsanalyse. Ihre Schwerpunkte sind die Themen Schwangerschaft, Geburt und pränatale Psychologie. Zugleich ist die Autorin als Coach und Dozentin für Hebammen tätig. Ich möchte heute mit ihr über ihr Buch „In Mamas Bauch – Schwangerschaft und Geburt – bewegende Erfahrungen aus der Sicht eines Babys“ sprechen und über ihr Schreiben und ihre Arbeit und wie beide Sphären miteinander zusammenhängen. Frau Meyer-Fritsch, vielen Dank, dass Sie den Weg zum Literaturradio gefunden haben.

Eine Eingangsfrage zum Aufwärmen, die Sie mir selbst geschenkt haben. Viele Kinder und so auch Sie antworten auf die Frage: „Was wollt ihr mal werden?“ mit „Archäologin“. Das war bei Ihnen auch so. Was haben Sie damals für Vorstellungen von der Archäologie gehabt? Und warum sind Sie auf diesen speziellen Beruf gekommen?

HM: Wir hatten eine Lehrerin, die so spannend erzählen konnte von den alten Kulturen, dass ich mir schon vorgestellt habe, ich würde selbst anfangen zu graben und auf völlig Interessantes stoßen. Das war ja das Bild, das man als Kind damals hatte. Dass es dann faktisch anders ist in der Archäologie, weiß ich heute. Aber diese Vorstellungen waren sehr lebendig, beispielsweise, als unsere Lehrerin Geschichten von Tutanchamun erzählt hat. Mir kamen dabei Bilder, weil sie sehr lebendig erzählen konnte. Das hat mich direkt inspiriert.

SL: Bei Ihrem Buch ist es im Prinzip wie bei jeder Geschichte, die man erzählt: Man muss sie ja irgendwo im übertragenen Sinne ausgraben. Die Geschichte ist irgendwie da, aber sie ist erst dann richtig da, wenn man sie erzählt. Und insofern denke ich, sind wir alle, die schreiben, in irgendeiner Form auch archäologisch tätig, als Ausgräber sozusagen. Bevor ich Sie jetzt zu Ihrer beruflichen Arbeit befrage und wir näher darauf eingehen, vielleicht vorab noch die Frage:

Welche Erfahrung in Ihrem Leben und Arbeiten hat Sie besonders geprägt?

HM: Das kann ich sehr persönlich beantworten. Das waren eigene Reisen „in Mamas Bauch“. Es gibt Selbsterfahrungsseminare, in denen man sich selbst in einem behutsam gehaltenen Kontext zurückbegeben kann in die ganz frühe Lebenszeit. Diese Prozesse werden „Regression“ oder auch „Egression“ genannt. Manche mögen das für seltsam halten. Aber ich habe erlebt, dass es möglich ist, dass Bilder und Erinnerungen kommen. Das hat mich tief beeindruckt. Es ist ein Strang dessen, was mich auch inspiriert hat, dieses Buch zu schreiben. Und ein zweiter Strang sind natürlich die beruflichen Erfahrungen, die ich in der Begleitung von Schwangeren mache.

SL: Wie kann man denn solche Erfahrungen in Menschen wachrufen? Wenn ich auf mich persönlich schaue, ich wüsste jetzt nichts über meine Zeit, bevor ich das Licht der Welt im wahrsten Sinne des Wortes erblickt habe, zu berichten. Wie kann man diesen Dingen auf die Spur kommen?

HM: Ich möchte gerne anfangen bei zwei Menschen, die die Methode „Bindungsanalyse“ ins Leben gerufen haben: Herr Dr. Hidas und Herr Dr. Raffai. Beide waren Psychoanalytiker in Ungarn, in Budapest. Sie arbeiteten mit Kindern und Jugendlichen, die psychisch erkrankt waren.

Die Psychoanalyse ist eine Methode, die sich sehr intensiv mit den psychischen Wurzeln der Erkrankungen befasst. Hidas und Raffai bemerkten, dass die Ursachen der psychischen Erkrankungen häufig im vorgeburtlichen Bereich lagen. Das heißt, dass die Defizite, die die Kinder erlebt hatten, schon in der Schwangerschaft erlebt wurden. Daraufhin haben die beiden sich überlegt, dass es gut wäre, eine Methode zu entwickeln, mit der man präventiv arbeiten könnte. Eine Methode, mit der man Schwangere so begleiten könnte, dass die Kinder seelisch gut oder heiler zur Welt kommen. Es ging ihnen darum, die Mütter so zu begleiten, dass sie kompetent werden, ihre eigenen Problematiken nicht auf das ungeborene Kind zu übertragen. So haben die beiden angefangen. Es ist viel umfassender, aber ich versuche, es kurz auf den Punkt zu bringen.

Das Konzept der Bindungsanalyse kurz erklärt


In den 1980er Jahren begannen Hidas und Raffai diese Methode zu entwickeln, die sie „Bindungsanalyse“ nannten. In Respekt vor den beiden übernehme ich dieses Wort. Ich liebe es nicht so sehr, weil es sich für mich viel zu analytisch anhört.

Die Bindungsanalyse ist keine Analyse im Sinne einer Psychoanalyse. Letztlich ist es eine Begleitung in der Schwangerschaft. Und zwar die Begleitung dahin, dass die Mutter selber ihren Weg zum Baby findet, also ihrer eigenen Intuition folgen kann und in Kontakt kommt mit dem Kind.

Hiltrud Meyer-Fritsch, Theologin und Bindungsanalytikerin

Sie fragen: „Wie geschieht das?“ Das geschieht erst einmal durch Selbstwahrnehmung und Entspannung. Die Schwangere wird in Entspannung geleitet und in Kontakt mit ihrem Körper. Dann geht sie innerlich weiter mit der Wahrnehmung zum Bauchraum, zur Gebärmutter und im Laufe der Zeit bis hin zum Baby. Wir machen die Erfahrung, dass das gelingt.

Wenn die Schwangere bis zum Baby gelangt, dann erleben wir, dass nach und nach ein Dialog entsteht zwischen ihr und dem Baby. Nicht im Sinne von: „Ich erzähle dir jetzt mal was und du antwortest mir“ – so wie wir uns jetzt unterhalten. Es sind oft innere Bilder vom Baby, die in der Schwangeren aufsteigen.

Oder auch, dass Schwangere innerlich einen Satz hören und den Eindruck haben, dass diese Botschaft vom Baby kommt. Oder die Schwangeren haben einen Gedanken und plötzlich tritt das Baby im Bauch.

Bindungsanalyse im Bilderbuch "In Mamas Bauch" - Autorin Hiltrud Meyer-Fritsch im Interview

Viele Schwangere kennen das Gefühl: „Oh wow, jetzt tritt das Baby in meinem Bauch. Es ist, als ob es mir antwortet“.

Das habe ich oft am Anfang der Bindungsanalyse erlebt, wenn sich die Schwangere dem Baby in der Gebärmutter erstmals aufmerksam zuwendet. In diesem Moment, gerade in der ersten Begleitungsstunde, kickt das Baby gegen die Bauchdecke. Ganz viele Schwangere sagen dann: „Es ist, als ob es mich begrüßen will.“ Die Mütter freuen sich darüber. Diese Gefühle nehmen wir ernst. Wir sagen nicht, dass ist ja alles Quatsch, sondern wir nehmen das ernst. Wir antworten beispielsweise: „Ja, vielleicht will Ihr Baby Sie begrüßen! Möchten Sie Ihr Baby auch begrüßen?“ Dann folgen die Schwangeren ihrer eigenen Intuition zum Kind hin.

SL: Diese inneren Bilder, von denen Sie eben gesprochen haben, die interessieren mich jetzt. Also die Bilder der Schwangeren, die kommen, wenn sie die Verbindung aufbauen. Was kann ich mir darunter vorstellen?

Was ist mit „inneren Bildern“ der Schwangeren von ihrem Baby gemeint?

HM: Das ist tatsächlich ganz unterschiedlich. Ich liebe es an der Methode, dass sie so individuell und so offen ist, dass wir keine Bilder vorgeben. Wir sagen nicht: „Stellen Sie sich mal vor, da ist jetzt Ihr Kind und Sie nehmen es auf den Arm…“

Denn jede Frau hat ganz eigene Vorstellungen. Manche sagen: „Ich sehe das Kind in meinem Bauch so ähnlich wie auf dem Ultraschallbild.“ Andere sagen beispielsweise: „Ich nehme Wärme wahr.“ Und wenn das so ist, dann arbeiten wir mit der Wärme-Empfindung und ermutigen die Frau, diese Wärme-Empfindung ganz bewusst wahrzunehmen. Und möglicherweise ergibt sich aus dieser Empfindung, dass nach und nach ein Licht sichtbar wird und in dem Licht dann das Kind irgendwann erscheint. Es ist sehr, sehr unterschiedlich, wie die Mütter ihre Kinder wahrnehmen. Ich spreche bis jetzt immer von Müttern, Väter dürfen natürlich auch dabei sein. Sie sind auch gerne dabei. Welche Bilder dann kommen, ist sehr individuell. Aber ganz oft entsteht bei der Mutter irgendwann wirklich das Bild: Mein Baby ist mir vor Augen und ich möchte mit meinem Baby Kontakt aufnehmen.

Oder der Schwangeren scheint: Das Baby rückt näher zu mir hin, es will zu mir hin. Es ist, als wenn es Kontakt mit mir möchte. In diesen Situationen ermutigen wir natürlich, den emotionalen Kontakt zuzulassen. Die Eltern bekommen oft tatsächlich ein Bild, wie das Baby in ihrem Arm liegt. Es geht darum, auf die damit verbundenen Emotionen zu achten.

Emotionalen Kontakt zum Ungeborenen zulassen

Wie geht es der Mutter, wenn sie spürt: Das Baby ist bei mir im Arm? Vielleicht antwortet die Mutter: „Ich merke, wie warm es mein Herz macht, wie viel Liebe da ist.“ In diesen Situationen ermutigen wir die Mutter: „Mögen Sie das Ihrem Baby direkt sagen?“
Manchmal geschieht die Verbindung zum Kind auch ohne Worte. Man merkt einfach, wie die Verbundenheit und Liebe, den Raum einnehmen. Diese tiefen Erfahrungen sind sehr real. Die kann der Mutter niemand nehmen.

Ich hatte das Glück, dass ich viele Schwangere in Krisensituationen begleiten durfte, viele risikoschwangere Patientinnen im Krankenhaus. Da sind die Ängste oft sehr groß. Wenn zum Beispiel eine Frau mit vorzeitigen Wehen im Krankenhaus liegt und man dann mit dieser Methode arbeiten kann und die Schwangere macht im Kontakt mit ihrem Kind die Erfahrung: „Hey, da ist etwas gerade ganz, ganz gut und wunderbar und diese Verbindung zum Kind spüre ich ganz stark.“

Hiltrud Meyer-Fritsch, Theologin und Bindungsanalytikerin

HM: Das ist etwas, das die Schwangere durchtragen kann durch diese schwere Zeit. Gleichzeitig kann sich das wandeln, was vorher noch so dominant war, nämlich Sorgen, Ängste und Stress. Die Sorgen, die Ängste und der damit verbundene Stress sind nicht gleich weg, aber ich habe als Schwangere daneben noch eine andere Erfahrung in mir, die ganz kostbar ist.
Ich brauche als Mutter jetzt nicht mehr ausschließlich ein medizinisches Gerät, das mir die Herztöne zeigt, damit ich glauben kann, dass es meinem Kind gut geht, sondern ich habe innerlich quasi die eigene Herzensverbindung zum Kind als Gradmesser und dieser lebendigen Verbindung kann ich trauen. Das hat eine Wirkung auf Schwangere.

SL: Ja, das hat sie. Sie haben es wirklich sehr eindrücklich beschrieben. Gerade auch die Bilder finde ich sehr faszinierend.

Finden sich die inneren Bilder vom Ungeborenen im Buch „In Mamas Bauch“?

Oder genauer: Finden sich in den Illustrationen und in Ihren Worten, die sehr einfach, aber sehr eindrücklich sind, auch tatsächlich ganz konkrete Erfahrungen wieder?

HM: Absolut. Das war ja mein Anliegen. Aus den vielen Begleitungen habe ich versucht, die zentralen Dinge, die ich vom Baby begriffen habe, aufzuschreiben und auch das, was das Baby braucht. Diese Dinge habe ich versucht, in dem Buch zusammenzufassen. Sie haben gerade die Seite aufgeschlagen, wo es heißt: „Ich bin geborgen.“ Und das ist natürlich ganz häufig am Anfang der Schwangerschaft so ein Gefühl: Das Baby ist in mir geborgen und diese Erfahrung ist mit eine der tiefsten, die eine Mutter machen kann. Ich berge ein Kind in mir. Ein Kind fühlt sich in mir geborgen. Und was macht das mit mir als Mutter? Es gibt mir ein Selbstbewusstsein, dass ein Kind sich in mir geborgen fühlt. Diese Dimension zu erfahren, das ist eine andere Ebene als beispielsweise ein Mutterpass, in dem lediglich verschiedene Zahlen stehen. Das ist eine emotionale Botschaft, die trägt. Und wir können gerne noch mal weitergucken im Bilderbuch.

Im nächsten Teil des Interviews mit Autorin Hiltrud Meyer-Fritsch zeigt sie anhand der Illustrationen in ihrem Bilderbuch „In Mamas Bauch“ wie die Bindung zwischen Schwangerer und ungeborenem Kind entsteht und gefestigt wird. Nächsten Montag gehts‘ weiter.

Über Hiltrud Meyer-Fritsch

Hiltrud Meyer-Fritsch ist Diplom-Theologin und Bindungsanalytikerin nach Hidas und Raffai. In ihrer Praxis für Bindungsförderung und Bindungsanalyse begleitet und berät sie vor allem Menschen, die rund um Schwangerschaft und Geburt Hilfe suchen. Darüber hinaus ist sie als Coach, Referentin und als Dozentin für Hebammen tätig.

Hiltrud Meyer-Fritsch, Autorin im LebensGut Verlag

Das gesamte Interview mit Hiltrud Meyer-Fritsch und Steven Lundström findet sich auf Literaturradio Hörbahn. Literatur pur, das Internet- und Podcastradio für Literaturliebhaber. Hier kannst du unsere Podcasts hören: bei Spotify, Apple Podcast, iTunes, Google Podcasts, Radio D.

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