Liebe auf Augenhöhe.Was sehen wir in uns und was im Gegenüber?

Gibt es Liebe auf Augenhöhe? Wenn ja, was bedeutet Liebe auf Augenhöhe. Was sehen wir in uns und was im Gegenüber? Diesen Fragen geht die Autorin Stephanie Marie Steinhardt in diesem Gastbeitrag über gleichberechtigte Liebsbeziehungen nach.

Autorin Stephanie Marie Steinhardt mit ihrem Debütroman "Das Rote Vogelmädchen" in den Händen

Verliebtsein heißt gesehen werden

„Bene atmete tief durch. Endlich geschafft. Das war keine Glanzleistung von ihrer Seite gewesen, aber wer hatte auch mit so vielen Fragen gerechnet. Sie offenbar nicht, sonst wäre sie nicht vollmundig und wohlgestimmt ohne ihre Kollegin Tanja in das Meeting gegangen. Sie hatte geglaubt, dass sie mit ihren Ideen Eindruck machen könnte, dass sie beweisen könnte, dass sie gut war in ihrem Job. Außerdem fand sie den Auftrag spannend und, was sicher am allerschwersten wog, sie hatte gewusst, dass Jacob das Meeting leiten würde. Jacob. Sie unterdrückte ein Seufzen. Er hatte versucht ihr beizuspringen, doch erst zum Schluss. Zuvor waren selbst aus ihm ein paar wirklich unangenehme Fragen heraus gepolterrt. Berechtigte Fragen, das musste sie ihm anerkennen, und dennoch. Sie hatte für keine davon eine wirklich schlüssige Antwort parat gehabt. Mist. Sie beugte sich hinunter, um den Stecker ihres Laptops aus der Dose zu ziehen. Sah von dort, wie die ersten Beine den Raum verließen und sehnte sich ebenfalls danach, einen Haken an ihren langen Tag zu machen. Nichts wie weg hier, dachte sie, als sie erschöpft wieder unter dem Tisch hervorkam.
Und da war er. Jacob. Mit festem Blick. Er saß ihr noch immer gegenüber. Sie waren die letzten am Tisch und er schaute sie rundheraus an. Starr, direkt, ernst. Als hatte er nur auf sie gewartet. Sein Gesicht verriet dabei keinen einzigen seiner Gedanken und doch. Sie hielt den Atem an. Sie hatte das Gefühl, als würde er komplett eindringen wollen in ihre Welt. Tief. Hier. Zwischen all den anderen. Sein Blick war zu lang und viel zu nah für diesen Ort. Doch sie konnte, sie wollte nichts tun. Also ließ sie ihn hinein. Ließ seine Augen in ihren finden, was er suchte.
Ob er sehen konnte, was sie dachte, was sie sich wünschte? Bedeutete sein Blick, dass er das gleiche wollte? Oh Gott. Sie spürte ihn überall. Zu viel. Sie mussten aufhören. Sich lösen. Sie tat es. Lächelte zaghaft. Sie hatte ihm genug gezeigt.“

Empathie: Eintauchen in die Gefühlswelten eines anderen Menschen

Wenn ich als Autorin Szenen wie diese schreibe, darf ich tief eintauchen in andere Gefühlswelten. In Welten, die mit meiner Realität nicht unbedingt etwas zu tun haben. Ich bin dort frei, darf fühlen, tun und lassen, was ich will. In diesem Fall darf ich spüren, was es bedeutet wirklich und wahrhaftig von jemand anderem gesehen zu werden.
Darf erleben, was es heißt, mit jemandem, wenn auch nur für Sekunden, ganz und gar auf einer Augenhöhe zu sein. Ich liebe diese Momente, könnte ewig darin verweilen und frage mich dennoch manchmal, warum das so ist. Ob das viele Lesen und Schreiben gut ist? Warum sind es ausgerechnet romantische Geschichten? Ist es Flucht vor dem Alltag oder die Überzeugung, dass man mit Liebe viel bewegen kann oder aber fehlt mir schlicht etwas davon in meinem eigenen Leben?
Ich habe noch keine fundierte, vollständige Antwort auf diese Fragen, aber ich bin geneigt  ein paar Vermutungen in den Raum zu werfen.
Wenn wir uns intensiv beschäftigen mit unseren Bedürfnissen und Wünschen, landen wir in tiefen Schichten nicht selten bei der großen Sehnsucht danach, wirklich gesehen zu werden. Denn viele fühlen sich falsch, in sich, in ihrem Umfeld, in ihrem Leben.
Aber geht es wirklich um das Haus am Meer, um das viele Geld oder den tollen Job? Sind wir glücklicher, wenn wir all das haben oder braucht es doch etwas anderes?

Was sehen wir in uns und was im Gegenüber? Malen und Zeichnen ist eine Schule für bewusstes Wahrnehmen - eine Fähigkeit, die für eine Liebe auf Augenhöhe unabdingbar ist.

Wir sehen den anderen und wir werden gesehen.

Wenn wir uns zum Beispiel frisch verlieben, ist so ziemlich alles andere egal. Warum?
Von dem verrückten Hormoncocktail mal abgesehen, glaube ich, dass gerade wenn wir uns ineinander verlieben, wir uns tiefe Blicke schenken. Wir geben uns sehr viel Nähe und Aufmerksamkeit, vorausgesetzt natürlich, es läuft gut. Wir sehen den anderen und wir werden gesehen.
Wir spüren, dass wir im Zentrum eines anderen stehen und fühlen uns dadurch getragen, wertvoll, ganz und gar vollkommen. Wir erkennen durch den Blick des anderen einmal mehr, wer wir selbst sind oder sein könnten.
Und das ist einfach wunderschön.

Ein tiefes, sicheres, befreiendes Gefühl von ich bin gut und richtig.

Doch, was wenn die Zeit der rosaroten Brille vergeht? Wenn wir uns hunderte Male angeschaut und gesehen haben. Was geschieht, wenn wir glauben, uns in und auswendig zu kennen? Schauen wir dann überhaupt noch hin?
Ich male unheimlich gern und viele denken, es bräuchte dafür Talent in der Hand, doch letztlich gehört zum guten oder sagen wir mal besser zum „naturalistisch korrekten“ Malen vor allem eines, die Fähigkeit gut zu sehen. Wir müssen uns die Mühe machen, richtig hinzuschauen. Wenn das Bild also nicht gelingt, dann liegt es meist nur daran, dass wir die Augen aufs eigene Blatt und nicht auf das Objekt vor unserer Nase gerichtet haben. Wir haben also vielmehr gemalt, was wir dachten oder erwartet haben zu sehen, aber nicht, was da tatsächlich vor uns lag.

Was sehen wir in uns und was im Gegenüber? Malen und Zeichnen ist eine Schule für bewusstes Wahrnehmen - eine Fähigkeit, die für eine Liebe auf Augenhöhe unabdingbar ist.

Was ist, wenn das im Miteinander genauso passiert? Wenn wir nur denken, wir würden unser Gegenüber wirklich kennen, weil wir ihn vor Jahren doch genauestens unter die Lupe genommen haben. Das muss doch genügen. Wir waren auf einer Ebene, waren offen, haben gezeigt, wer wir wirklich sind. Doch wir alle leben im konstanten Wandel, verändern uns stets und ständig, entwickeln uns im besten Falle weiter, aber schauen wir nach Jahren noch genau hin? Sehen wir all die Metamorphosen des anderen wirklich? Gibt es sie noch, die langen Blickkontakte, den Austausch ohne Worte, bei dem doch alles gesagt wird?
Und kann ich meinem Gegenüber überhaupt zeigen, wer ich bin, wenn ich es selbst gar nicht mal so genau weiß?

Selbstwert als Grundvoraussetzung für Liebe auf Augenhöhe

Wenn ich schreibe, wechsle ich oft die Perspektiven. Ich erzähle meine Geschichten zumeist aus ihrer und aus seiner Sicht. Ich darf mich also hineinträumen in verschiedene Welten. Darf mich sehen lassen und selbst schauen und bin immer wieder erstaunt, wie tief ich fühlen kann, was allein aus meiner Fantasie entspringt.
Das lässt mich vermuten und dazu gibt es mit Sicherheit auch interessante Studien, dass auch beim Verlieben das Schönste in uns selbst passiert. Wie wir uns fühlen, wird natürlich angeregt vom Blick des Gegenübers, aber das Gefühl uns dadurch wertvoll und ganz zu fühlen, das entsteht dabei in uns. Wir erkennen das Schöne in uns durch den Blick des anderen.
Aber ist es damit getan? Gerade die tiefen Blicke zu Beginn fühlen sich schwer und voll an, als würde man alles wissen, aber tun wir das wirklich oder bauen wir uns nicht gerade da ein Bild vom anderen zusammen, das rundherum perfekt ist? Alles was noch leer ist, füllen wir so auf, wie es uns gefällt.

Was sehen wir in uns und was im Gegenüber? Schreiben ist eine Schule für bewusstes Wahrnehmen - eine Fähigkeit, die für eine Liebe auf Augenhöhe unabdingbar ist.

Doch was, wenn die blinden Flecken über die Zeit, durch die gelebte Wahrheit des anderen, sichtbar werden? Wenn wir sehen, wer da wirklich vor uns steht, mit all seinen Ecken und Kanten? Was ist, wenn wir zwar dachten, wir hätten uns wirklich gesehen, aber dann feststellen, weit gefehlt?

Was, wenn wir uns zu Beginn nur selbst im Licht des anderen gespiegelt sahen?

Den anderen wirklich zu sehen, bedeutet hinter die Augen zu schauen, in den Abgrund des anderen hinein und da mit ihm oder ihr zu bleiben. Nicht im Sinne von Aushalten, sondern von immer wieder neu sehen und finden, von immer wieder neu zuwenden und entdecken. In meinen Geschichten versuche ich das. Ich versuche ein kleines Stück weiter zu gehen, über die ersten Momente der großen Verbindung hinaus, versuche hinter das Feuerwerk zu schauen und stattdessen auch am leisen Lagerfeuer zu sitzen. Meine Geschichten zu schreiben und die Perspektiven ständig zu verändern hilft mir, klarer zu sehen, mich und die Welt um mich herum. Ich kann unglaublich viel dadurch erleben, aber auch erkennen, dass rosarot nicht nur einfach ist. Dass es nicht die ganze Wahrheit ist. Dass rosarot bedeutet hinzuschauen. Zu mir selbst und zu meinem Gegenüber. Immer und immer wieder.

Was sehen wir in uns und was im Gegenüber? Malen und Zeichnen ist eine Schule für bewusstes Wahrnehmen - eine Fähigkeit, die für eine Liebe auf Augenhöhe unabdingbar ist.

Wenn du wissen willst, was es mit Bene und Jacob auf sich hat, was es heißt nach weichen Wattewolken in der Realität zu landen und trotzdem zu schweben, dann lies gern mein Buch „Das rote Vogelmädchen“.
Die Szene oben ist übrigens kein echter Teil davon, aber sie könnte es sein. Sie war heute ein Geschenk an mich. Ein berauschend schönes Gefühl.

Fotos: Stephanie Marie Steinhardt

Über Stephanie Steinhardt

Stephanie Marie Steinhardt, geboren am Valentinstag 1981, studierte Kommunikation und technische Illustration in Merseburg. Seit fast 20 Jahren arbeitet sie als Autorin und technische Redakteurin. Neben dem Schreiben malt sie Frauenporträts mit Acryl, die sie auf Social Media teilt. Ihre Werke haben in 18 Ländern und 27 US-Bundesstaaten ein Zuhause gefunden. Seit einigen Jahren versendet sie monatlich einen Love Letter zu ihren Porträts. Der Love Letter zu ihrem Bild „Bene“ inspirierte sie 2021 zu ihrer ersten Liebesgeschichte. Stephanie lebt mit ihrem Mann, drei Kindern und zwei Katzen in Halle (Saale).

Stephanie Steinhardt, eine Portraetkuenstlerin, sitzt auf einer Bank im Freien.


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