Was bedeutet Menschlichkeit in Zeiten künstlicher Intelligenz?

Wir gleichen Diamanten, die sich selbst schleifen. Was bedeutet es ein Mensch zu sein in Zeiten künstlicher Intelligenz?

– ein Gastbeitrag von Dr. phil. Andrea Gillert. Im Lebensgut Verlag ist 2023 ihr Buch „Wahre Menschen sind einfach göttlich“ erschienen.

Definition von Menschlichkeit – Was ist das überhaupt?

Echtes Menschsein erweist sich immer wieder als mein absolutes Lieblingsthema. Für mich bildet es die wesentliche Grundlage unserer Evolution. Ich glaube, in der Tiefe unserer Herzen ahnen wir alle, wie elementar wahrhaftige Menschlichkeit sowohl für unsere Spezies als auch für andere Lebensformen ist. Gerade weil die Welt derzeit noch ganz anders aussieht und die Durchdringung unserer Lebensbereiche mit KI den Eindruck aufkommen lässt, wir könnten in unserer Menschlichkeit irgendwann gar nicht mehr gefragt sein. Nicht nur für mich ist in Zeiten künstlicher Intelligenz das genaue Gegenteil der Fall.

Eine unselige Verantwortungslücke!

Der Mangel an Bereitschaft, Verantwortung für anderes Leben zu übernehmen, hat in meinen Augen epidemische Ausmaße angenommen. Wie eine ethische Lücke im kollektiven Bewusstsein überschattet dieser Umstand das Leben auf unserem wunderbaren Planeten. Dabei ist die Erde für mich ein lebendiges Wesen, ein einziger großer Organismus, der uns alle verbindet. Es stimmt mich froh, dass immer mehr Menschen bereits im eigenen Körper spüren, was dies bedeutet.

Was bedeutet wahre Menschlichkeit? Wie unterscheidet sich das Menschsein und was zeichnet es aus, etwa in unserer Liebe zu anderen Lebewesen wie hier in der innigen Beziehung zwischen Frau und Pferd.

Lass uns wahre Menschlichkeit genauer anschauen!

Hinter unserer Menschlichkeit steht eine Frage, die bereits den dänischen Philosophen Sören Kierkegaard bewegt hat: Was bedeutet es, ein Mensch zu sein? Spürst du es? Hier geht es um unsere eigene Existenz und das Leben im Allgemeinen! Fast scheint es, als habe Kierkegaard damit die Frage aller Fragen gestellt. Doch eins nach dem anderen!

Lektüretipp: Clare Carlisle Biografie: Sören Kierkegaard: Der Philosoph des Herzens

Aus meiner Sicht hat unsere Menschlichkeit zwei wesentliche Aspekte. Sie finden auf den verschiedenen Ebenen unserer Innen- und Außenwelt ihren Ausdruck. Lass mich das Ganze einmal so umschreiben:

Der erste Aspekt beinhaltet, was uns als Menschen generell eigen ist.


Hierzu gehören etwa unser …

  • physisches Sein,
  • Verstandesvermögen,
  • Charakter,
  • Persönlichkeit,
  • Aussehen

Diese Form von Menschlichkeit kann als Grundlage allgemeinen Menschseins erkannt werden, denn anderes Leben weist die genannten Aspekte nicht in derselben Weise auf. Auf der Basis dieser Grundausrüstung unterscheiden wir uns deutlich von anderen Lebensformen. Niemand vermag uns diese Art von Menschlichkeit abzusprechen, weil sie uns zugehörig ist.

Der zweite Aspekt unserer Menschlichkeit will erobert werden

Jetzt wird es spannend. Denn es gibt Kennzeichen von Menschlichkeit, denen unsere geistig-seelische Entwicklung zugrunde liegt. Hierfür reicht bloßes Menschsein nicht aus. Die spezifischen Wesensmerkmale, um die es hier geht, möchten im Laufe unseres Lebens entfacht, aktualisiert und gelebt werden. Bestimmte Haltungen, die unser soziales Leben erst wirklich lebenswert machen, mögen als Beispiele für diese existenziell relevante Form von Menschlichkeit gelten.

Welche Eigenschaften gehören zu Menschlichkeit?

Folgende Haltungen machen unser soziales Leben erst lebenswert. Menschlichkeit steht in Verbindung mit

Empathie / Einfühlungsvermögen

Empathische Menschen besitzen ein natürliches Einfühlungsvermögen. Ihre Fähigkeit, sich gut in ihr Gegenüber versetzen zu können, äußert sich nicht zuletzt in Mitgefühl und Anteilnahme. In entscheidenden Momenten sind sie in der Lage, ihr Herz zu öffnen und durch Zuspruch oder Hilfsbereitschaft ihrem Gegenüber ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern.

Achtsamkeit / Respekt

Der Begriff Achtsamkeit ist in aller Munde. Dahinter verbirgt sich unser Fokus auf den jeweiligen Moment. Achtsamkeit kann in Bezug auf unsere Beziehungen u.a. die Ausbildung menschlicher Qualitäten wie Wertschätzung, Rücksicht und Toleranz fördern.

Herzlichkeit

Wirklich herzliche Menschen haben ungeachtet ihrer emotionalen Verwundungen das eigene Herz nicht verschlossen, um es vermeintlich zu schützen. Herzlichkeit zeugt von Vertrauen in das Leben und in unser Gegenüber. Oft geht sie mit einer großen Portion Güte einher.

Vergebung

Einer der wesentlichsten Faktoren, um unsere eigenen Wunden aber auch Beziehungen zu heilen, liegt in unserer Bereitschaft zur Vergebung. Sie kann in meinen Augen nur Früchte tragen, wenn wir die Verantwortung für äußere Umstände bei uns lassen und bereit sind, uns in Selbstvergebung zu üben. Auf dieser Basis lernen wir, auch anderen Menschen zu verzeihen und sie so zu akzeptieren, wie sie sind.

Die obigen Kennzeichen zeugen für unsere Fähigkeit zur Mitmenschlichkeit. Doch für mich bedeutet wahre Menschlichkeit mehr. Wenn wir entdecken, dass wir nicht nur füreinander Verantwortung tragen, sondern letztlich allem Leben gegenüber zur Fürsorge aufgerufen sind, kommt eine weitere Ebene hinzu. Sie gründet auf unserem Eingebundensein in ein großes Ganzes.
Bisher gibt es noch nicht allzu viele Menschen, die diesen Zustand dauerhaft erfahren. Ich denke, Eingebundenheit erschließt sich am leichtesten, wenn wir uns ihrem Gegenpart zuwenden: jener Unmenschlichkeit, die auf dem Gefühl von Trennung beruht. Für deren Anwesenheit gibt es einen verlässlichen Indikator: Sobald wir dieser Schattengestalt unseres menschlichen Potenzials im Außen begegnen, verschließt sich augenblicklich unser Herz. Ihre Lieblosigkeit tut einfach zu weh!

Der Ursprungsgedanke unseres menschlichen Potenzials

Bereits seit Jahrzehnten erforsche ich mit wachsender Begeisterung unsere menschlichen Möglichkeiten. Mir liegt viel daran, dass wir uns mit der Entfaltung unseres vollen humanen Potenzials dem menschlichen Ursprungsgedanken annähern. Wir sind in meinen Augen anders gedacht, als wir uns derzeit als menschliches Sein und Bewusstsein erfahren.
Auf meinem eigenen Weg habe ich die „Philosophie des Herzens“ schätzen gelernt. Sie gründet auf einem erfrischend ganzheitlichen Selbst- und Seinsverständnis. Fühlende Denkerinnen wie Dr. phil. Gabriele Sigg und Ilknur Özen möchten – genauso wie ich – über den Zugang des Herzens eine Verbindung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften ermöglichen. Denn allein unser Herzdenken lässt Spiritualität (Weisheit) und Materialität (Wissen) komplementär und auf Augenhöhe aufscheinen.

Lektüretipp: Ilknur Özen: Philosophie des Herzen, Verlag Traugott Bautz, 2012

Hier geht es nicht um Selbstoptimierung

Wenn ich wie oben von der Entfaltung unseres wahren Potenzial spreche, meine ich dies nicht etwa im Sinne einer ständigen Selbstoptimierung. Dieser Winkelzug würde in meinen Augen ins Leere laufen. Immerhin wohnt jedem Streben nach Perfektion eine ordentliche Portion Leistungsdruck inne. Ganz im Gegenteil: Vollkommenheit käme einem Stillstand gleich und dieser ist – soweit mir bekannt – vom Universum nicht vorgesehen.
Denke also bitte nicht, die Entfaltung unseres wahren Potenzials entspräche einem Streben nach Perfektion. Leistungsdruck ist im Hinblick auf unsere Evolution nicht von Nöten. Mit dem gesunden Streben nach Vollständigkeit fahren wir im Leben deutlich besser.

Braucht es wirklich einen radikalen Bewusstseinswandel?

Diese Frage bewegt viele meiner Klienten. Ich antworte dann, dass es den im Hinblick auf unsere Menschlichkeit meiner Ansicht nach schon braucht. Allerdings spüre ich deutlich, dass längst nicht alle Menschen zu einem solchen Bewusstseinswandel bereit sind. Denn er erfordert die Hinterfragung unseres Woher, Wohin und Warum. Und radikal, so wie es der Titel dieses Abschnitts nahelegt, klingt ein bisschen zu drastisch, um mal eben einen inneren Schalter in uns umzulegen, stimmt’s?
Doch wir befinden uns mittendrin in einem gigantischen Wandel. Für manche Menschen ist dies sonnenklar, während andere keinen blassen Schimmer haben, dass es sich so verhält. Beides ist in Ordnung.

Beim Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel lässt es sich vortrefflich über wahre Menschlichkeit sinnieren!

Wird sich unsere Menschlichkeit in Zukunft verändern?

Wenn du mich fragst: Sie ist bereits auf dem besten Weg dorthin. In der westlichen Welt haben immer mehr Menschen das unglaubliche Privileg, sich nicht länger 24/24 im Survival-Modus zu befinden. Sie haben sich bereits auf die Suche nach ihren wahren Möglichkeiten begeben oder stehen in den Startlöchern.
In meinen Augen wird es zunehmend zur Verkörperung unserer göttlichen Anteile kommen, die sich wie kostbare Perlen hinter den Schatten und Traumen unserer unbewussten Anteile verbergen. Individuell und kollektiv geht es jetzt darum, kollektiv wieder richtig Fühlen zu lernen. In dem wir unsere Emotionen und Gefühle als Reise verstehen, die alles in Bewegung bringen kann, ebnen wir der Rückkehr des femininen Prinzip bereitwillig den Weg. Es steht für unsere Fähigkeit, so zu lieben, wie es für mich echter Menschlichkeit entspricht: Nichts wird länger ausgeklammert. Alles darf so sein, wie es sich zeigt.

Ist es heute noch wichtig menschlich zu sein?

Angesichts digitaler Welten auf dem Vormarsch und dem rasant wachsenden Einsatz von Künstlicher Intelligenz, stellt sich die wesentliche Frage, was unser Menschsein und wahre Menschlichkeit tatsächlich ausmacht. Werden wir zukünftig überhaupt noch Chancen haben, wirklich menschlich sein?


Sobald wir uns mit den Aspekten von Menschlichkeit beschäftigten, beginnen wir, unser Menschsein zu hinterfragen. Wirkliche Menschlichkeit bedarf in meinen Augen der Erkenntnis, wer, woher und warum wir sind. Nun ist mir natürlich bewusst, dass Fragen wie diese viele Menschen irritieren. Manche würden von sich behaupten, im Biologieunterricht besser aufgepasst zu haben als ich. Hätte ich es ihnen gleichgetan, müsste ich jetzt nicht so seltsame Fragen in den Raum stellen.
Zugegeben, ich habe in der Schule häufig einfach „dicht“ gemacht. Erst später habe ich die Antworten gefunden, mit denen ich gut leben kann. Ganz einfach, weil sie sich für mein Herz wahr anfühlen. Die Tatsache, nichts weiter als ein weiblicher Trockennasenaffe zu sein, kann mein Gemüt bis heute nicht einfach so hinnehmen. Da halte ich es doch lieber mit Ingrid Raßelenberg, für die der Mensch Göttlichkeit in Form ist, welche sich selbst erkennt.
(Ingrid Raßelenberg ist eine Expertin für Ontologische Mathematik und Zahlenphysik.)

Hier kann ich andocken, hier geht mein Herz auf! Da strebt alles in mir nach Entfaltung, denn hier darf ich sein! Und stell dir vor: Das Ganze funktioniert ganz ohne Dogmen und Religionen.
In Zukunft wird es nicht zuletzt darum gehen, dass die modernen Technologien unsere Menschlichkeit nicht untergraben. Für mich liegt der Schlüssel darin, uns immer wieder mit unserem Herzen zu verbinden. Wahre Menschlichkeit benötigt in meinen Augen, dass wir das eigene Ego liebevoll in unsere Seele integrieren. So kann es uns dienen, ohne Schaden anzurichten. Wenn uns dies gelingt, werden wir automatisch zu empathischeren, verständnisvolleren und gütigeren Menschen. Was will die Welt mehr?

Über Andrea Gillert

Dr. phil. Andrea Gillert begleitet als Coach für persönliches Wachstum und Mentorin für Selbstreflexion Menschen in wichtigen Lebensphasen und unterstützt sie in ihren individuellen Prozessen. Sie möchte dazu beitragen, dass Menschlichkeit im tiefsten Sinne gelebt wird und die Würde anderer Lebewesen wieder mehr Anerkennung findet. In ihrer Arbeit verbindet sie Wissen und Weisheit mit Leichtigkeit und Tiefgründigkeit.

Autorin Andrea Gillert

Copyright@Dr. phil. Andrea Gillert 2024

Titelfoto: pixabay Gerd Altmann

4 Gedanken zu „Was bedeutet Menschlichkeit in Zeiten künstlicher Intelligenz?“

  1. Vielen Dank für die Zurverfügungstellung des Artikels. Besonders der Aspekt der Herzlichkeit hat mich berührt. Wie kommt man zu dieser, wenn man sie nicht in die Wiege mitbekommen oder im Laufe des Lebens verloren hat?
    Mir scheint, es muss einem geschenkt werden, denn alles Bemühen fruchtet nur kurz.
    Aber ich werde mir Ihren Artikel immer wieder vor Augen führen.
    Ganz, jetzt doch, HERZLICHE Grüße
    Veronika

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    • Liebe Veronika,

      danke für Ihr freundliches Feedback. Es freut mich sehr, dass der Aspekt der Herzlichkeit Sie berührt. Sie ist in meinen Augen so elementar für unsere Zukunftsfähigkeit. Für mich haben wir sie alle „in die Wiege mitbekommen“, doch viele Menschen verlieren diese Qualität im Laufe ihres Lebens. Aufgrund emotionaler Verletzungen, die unglaublich schmerzen können, vermauern sie ihr Herz. Als Schutzwall gedacht, verhindert die sogenannte „Herzmauer“, dass wir offen auf das Leben zugehen und es vertrauensvoll „umarmen“ können. All dies möchte in diesen Tagen „beherzt“ angeschaut werden, um heilen zu können.

      Herzlichst
      Andrea

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  2. Ich mag mich gern ent – decken und staunend aufspüren, was da in mir (noch) verborgen ist – es gibt die schöne Weisheit, daß sich Gott in unseren Herzen „verborgen“ hat – mit dem Anliegen, daß wir das Göttliche – und damit zutiefst Menschliche – in uns finden.

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    • Liebe Margitta,

      was Sie hier beschreiben, entspricht auch meinen Empfindungen. Für mich verbergen sich die von Ihnen genannten Ausdrucksmöglichkeiten menschlichen Seins allerdings in jeder Zelle – und damit in unserer DNA. Das zutiefst Menschliche als Ausdruck des Göttlichen in uns kann in meinen Augen nur verwirklicht werden, wenn wir bereit sind, auch die vermeintlich „unschönen“ Aspekte unserer menschlichen Facetten anzuerkennen und mit geöffnetem Herzen zu umarmen. Danke für Ihren Kommentar.
      Ganz herzliche Grüße
      Andrea

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